Schulstart: Das müssen Kinder wirklich können
Schreiben, Lesen, Rechnen: Viele Eltern fördern das schon vor Schulbeginn, und wegen der Unsicherheiten angesichts Corona vielleicht noch mehr. Doch Kinder brauchen zum Schulstart etwas anderes.
„Moritz, komm, wir lernen jetzt schreiben!“ Moritz ist fünf Jahre alt, ist längst gut im Kindergarten eingewöhnt und kommt erst kommendes Jahr in die Schule. Dort würde er ohnehin schreiben lernen. Aber sein Vater glaubt: Moritz wird sich in der Schule leichter tun, wenn er es schon vor der Einschulung lernt.
Und Moritz‘ Papa ist da nicht der Einzige: Immer mehr Eltern bringen ihren Kindergartenkindern vor dem Schulbeginn Lesen und Schreiben bei. Doch bringt das wirklich etwas? Oder gibt es Dinge, die für Kinder vor dem Schulstart viel wichtiger wären? Die Wiener Kindergartenpädagogin und Leiterin eines Kindergartens, Maria Ausilia Bandino, hat Antworten.
Ich komme in die Schule! Was Kinder vor dem Schulstart wirklich brauchen
Müssen Kinder vor der Einschulung schon schreiben, rechnen, lesen können?
Nein, das müssen sie nicht. Auch wenn das Nachbarskind schon im Kindergarten prima schreiben konnte und die vierjährige Tochter der Freundin offenbar ein Mathe-Ass ist: Lassen Sie sich davon nicht verunsichern, denn die Expertin weiß: „Wichtig sind nicht die Erwartungen der Eltern, sondern die Bedürfnisse der Kinder. Manchmal überfordern wir unsere Kinder und vergessen, dass sie auch lernen, ohne etwas zu tun.“ Um die Kinder nicht durch zu hohe Erwartungen zu stressen, sollten wir uns klar machen: Es ist viel wichtiger, dass das Kind seine Kindheit genießen kann. Denn die wichtigste Lernform für Kinder ist das Spiel – übrigens ein Leben lang!


Was ist vor Schulbeginn wichtiger für Kinder?
Manche Kinder lernen vor der Schule Schreiben und Rechnen – aber einfache praktische Dinge lernen sie dafür oft nicht. Und dann beginnt die Schule und die Tafelklässler wissen nicht, wie sie ihre Tasche packen sollen. Das lässt sich zum Glück verhindern: „Sowohl daheim als auch im Kindergarten sollten Erzieher und Eltern die Kinder bei praktischen Dingen begleiten. Beim Essen zum Beispiel und auch beim An- und Ausziehen“, sagt Maria Ausilia Bandino. Begleiten heißt aber nicht es ihnen abnehmen! Die Kinder sollen es selbst versuchen und die Eltern dort Hilfestellung geben, wo es noch hakt – ganz nach dem berühmten Motto von Maria Montessori: „Hilf mir, es selbst zu tun.“ So lernen die Kleinen Selbstständigkeit – eine der wichtigsten Kompetenzen.
Ist es gut, vor dem Schulstart den eigenen Namen schreiben zu können?
Jein. „Die Kinder sollten nie gezwungen werden, etwas zu lernen. Erwachsene geben den Kindern viele Impulse aber das Kind entscheidet selbst, je nach seinen Interessen oder seinem Entwicklungsstand, was es lernen möchte.“ Jesper Juul hat es so ausgedrückt: „Das Kind ist. Punkt.“ Wenn Kinder bereits Interesse am Schreiben zeigen, fördern Sie das gerne. Wenn Ihr Kind andere Interessen oder Fähigkeiten an den Tag legt, fördern Sie stattdessen diese.
Welche Kompetenzen sind für Tafelklässler noch wichtig?
Am wichtigsten ist es, dass Kinder vor dem Schulstart emotionale und soziale Kompetenzen lernen. Das können Eltern durch unterschiedliche Aktivitäten unterstützen: „Durch Brettspiele lernen Kinder Regeln zu akzeptieren und mit Erfolgen wie Misserfolgen umzugehen“, sagt Maria Ausilia Bandino. „Wenn Sie Bilderbücher anschauen und vorlesen oder Geschichten erzählen, lernen die Kleinen das Zuhören und die Meinungen anderer zu respektieren. Musik- und Bewegungsübungen können Kindern helfen, den Umgang mit den eigenen Emotionen zu fördern. Sie lernen, Emotionen zu benennen und zu regulieren und die Emotionen der anderen kennen.“
Warum sind für Vorschulkinder soziale und emotionale Fähigkeiten wichtiger als Lesenkönnen?
Die Emotionsregulation ist eine Voraussetzung für die Schulreife. Denn: „Das Kind erlebt in der Schule, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben.“ Im Kindergarten lernt es bereits das erste Mal, mit Kindern und Erwachsenen außerhalb der Familie umzugehen. Wichtig ist daher, dass Eltern und Erzieherteam den Kindern schon vor Schulbeginn ganzheitliches Lernen vermitteln – und zwar alle Kompetenzen: soziale, emotionale, motorische und kognitive.
Wie unterstützen Eltern ihre Kinder vor Schulbeginn am besten?
Hier lautet das Stichwort achtsame Erziehung: „Beobachten Sie Ihre Kinder und hören Sie ihnen zu. Geben Sie ihnen die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, kleine Konflikte selbst zu lösen und Fragen zu stellen.“ Erwachsene haben die Aufgabe, angemessen zu reagieren – nicht nur anzuleiten und zu fordern. „Denn jedes Kind ist ein unabhängiges und denkendes Wesen“, sagt die Kindergartenpädagogin. „Unsere Aufgabe als Pädagoge und Pädagogin ist das Kind als ganzheitliches Wesen zu sehen. Wir begleiten es in seinem Entwicklungsprozess und wissen: Jedes Kind ist anders und hat sein Lerntempo.“