Femizid: Frauen sind nicht ausreichend geschützt
Als Anwältin hilft Sonja Aziz den Opfern häuslicher Gewalt juristisch – als Publizistin und Aktivistin setzt sie sich für einen anderen Umgang mit dem Thema ein. Hier erklärt sie, wie Justiz, Polizei – und die Gesellschaft – umdenken müssen.
Inhaltsverzeichnis
- Was war Ihr bedeutendster Fall im Kampf für die Frauen?
- Kann man solche Taten überhaupt verhindern?
- Was ist ein Femizid?
- Österreich zählt zu den EU-Staaten, in denen prozentual vergleichsweise viele Femizide passieren. Weiß man, warum?
- Was kam heraus?
- Was ist noch problematisch?
- Ein perfektes Opfer?
- In welcher Zerrissenheit befinden sie sich?
- Was ist GREVIO?
- Was sind die Ursachen für häusliche Gewalt?
- Die Opfer werden beschuldigt?
- Sie sagen, dass dann vor Gericht oft vieles schiefläuft. Was zum Beispiel?
- Das hört sich sehr frustrierend an, wie sind Sie Opferanwältin geworden und warum dabeigeblieben?
- Häusliche Gewalt – ein europaweites Problem
- Gewalt gegen Frauen: Die Lage bei uns
Am 25. November findet wieder der „Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen und Mädchen“ statt. Der Gedenk- und Aktionstag soll daran erinnern, dass geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt bekämpft werden müssen. Sonja Aziz befasst sich als Anwältin seit über 15 Jahren mit häuslicher Gewalt und deren extremster Form, dem Mord an Frauen oder Kindern. Die 42-Jährige vertritt mit ihrer Kanzlei in Wien weibliche Opfer oder ihre Angehörigen. Sie kritisiert Polizei und Justiz vor allem wegen mangelnder Sensibilität. Und sie erklärt, warum Österreich im europäischen Vergleich schlecht abschneidet.
Was war Ihr bedeutendster Fall im Kampf für die Frauen?
Als ich mit einem Opfer mit einer Beschwerde gegen Österreich bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegangen bin, das hatte sich bis 2021 gezogen. Bereits 2012 hatten die Mutter und ihre beiden Kinder den Vater wegen Gewalttätigkeit bei der Polizei angezeigt. Es gab eindeutige Beweismittel, drei Zeugen plus die frischen Verletzungen im Gesicht der Mutter. Gegen den Mann wurde ein Betretungsverbot erlassen, er durfte nicht mehr in die Familienwohnung und sich auch dem Zuhause der Eltern meiner Mandantin nicht mehr nähern. Er hatte gedroht: „Wenn du dich trennst, bringe ich die Kinder um.“ Das erzählte die Frau auch der Polizei. Drei Tage später fuhr er zur Schule, lockte die Kinder unter einem Vorwand in die Garderobe und erschoss den Achtjährigen, das sechsjährige Mädchen konnte fliehen. Er selbst richtete sich dann in seinem Auto.
Kann man solche Taten überhaupt verhindern?
Die Polizei hätte angesichts einer solchen Drohung die Staatsanwaltschaft kontaktieren müssen, um anzuregen, dass eine U-Haft oder eine Festnahme angeordnet wird. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat unsere Beschwerde gegen Österreich mit einem Votum von 10:7 Stimmen schlussendlich leider abgewiesen. Dennoch beinhaltete die Entscheidung wichtige, richtungsweisende Grundsätze zum Schutz vor häuslicher Gewalt in der EU. Der Fall führte zu einer Gesetzesänderung, wonach Betretungsverbote auch für Schulen ausgesprochen werden können. Die Gefährdung der Frauen ist aber unverändert hoch, sie sind immer noch nicht ausreichend vor Femiziden geschützt.
Was ist ein Femizid?
Ein Femizid ist ein Mord an einer Frau aus dem Grund, weil sie eine Frau ist. Es ist die extremste Form von geschlechtsbezogener Gewalt. Der Täter ist meist der Ex-Partner oder Partner, manchmal Bruder oder Vater, selten ein Fremder. Die Gewalt eskaliert oft in Trennungsphasen, das ist die gefährlichste Zeit für eine Frau.
Österreich zählt zu den EU-Staaten, in denen prozentual vergleichsweise viele Femizide passieren. Weiß man, warum?
Wegen der dramatisch hohen Zahl wurde 2019 vom Bundeskriminalamt eine Studie in Auftrag gegeben: Die Universität Wien sollte alle Morde und Mordversuche an Frauen im Zeitraum 2018/2019 untersuchen. Man wollte herausfinden: Was war all diesen Fällen gemein? Und was lernen wir für die Zukunft?
Was kam heraus?
Ein Mord hat meistens eine lange Vorgeschichte an häuslicher Gewalt. Bei der Hälfte der Femizide gab es vorher schon polizeiliche Interventionen, oft war bereits ein Betretungsverbot gegen den Täter ausgesprochen worden. Die Behörden wussten von der Bedrohung. Außerdem war ein Großteil der Täter bereits polizeilich vorgemerkt, wegen Gewalt-, Eigentums- oder Drogendelikten. Die Polizei müsste also schneller die Gefahr für eine Frau feststellen und intervenieren, etwa eine Festnahme anregen. Das passiert viel zu selten.
Was ist noch problematisch?
Wenn eine Frau die Kraft findet, eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt zu erstatten, wird sie oft nicht ernst genommen. Da werden etwa gefährliche Drohungen wie „Ich bringe dich um!“ als situationsbedingte Unmutsäußerung abgetan. Oder Verfahren werden aus Mangel an Beweisen eingestellt, obwohl es Beweismittel gäbe, denen jedoch nicht von Amts wegen nachgegangen wird. Die Verantwortung des Staates wird in der Praxis oft auf das Opfer übertragen. Es gibt bei Gericht die Erwartung, wie sich ein perfektes Opfer verhalten sollte.
Ein perfektes Opfer?
Ja, das perfekte Opfer erstattet früh Anzeige, hat dafür seine Verletzungen dokumentiert, hat Zeugen und eine chronologisch geordnete Mappe mit Beweismaterial. Das schaffen Opfer aber nicht. Die Justiz und die Polizei müssen sich viel mehr Wissen aneignen, um das Verhalten von Traumatisierten richtig deuten zu können. Und sie müssten auch verstehen, dass die Frauen sich ambivalent verhalten.
In welcher Zerrissenheit befinden sie sich?
Sie haben oft Schwierigkeiten, sich zu trennen. Sie hoffen, dass sich die Situation bessert, glauben an die Liebe. Es gibt aber vor allem große Angst und Abhängigkeiten. Etwa die ökonomische Hilflosigkeit, weil die Frau kein eigenes Einkommen hat oder allein keine Wohnung finden würde. Und die Sorge um die Kinder. Oft droht der Mann: Ich nehme sie dir weg. GREVIO hat das kritisiert.
Was ist GREVIO?
Die 2011 vom Europarat beschlossene Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnenden, Gewalt gegen Frauen zu ahnden. GREVIO überprüft als unabhängiges Komitee jeden Vertragsstaat, ob dies ausreichend umgesetzt ist. Österreich wurde erst 2023 überprüft – und 2024 gerügt.
Was sind die Ursachen für häusliche Gewalt?
Die tief verwurzelten patriarchalen Strukturen. In vielen Bereichen sind die Geschlechter nach wie vor nicht gleichgestellt. Sei es beim ungleichen Lohn, sei es bei der Care-Arbeit, die nach wie vor größtenteils von den Frauen verrichtet wird, die dadurch in der Armutsfalle landen. Die Täter haben Rollenbilder verinnerlicht, dass ein Mann stark sein muss und keine Schwäche zeigen darf. Dass er alles bekommt, wenn er nur er will. Den Macht- und Kontrollverlust bei einer Trennung können Männer oftmals nicht akzeptieren. Und viele morden, weil sie denken: Wenn ich dich nicht haben kann, dann darf dich niemand haben. Auch die gesellschaftliche Wahrnehmung ist übrigens patriarchal. Das zeigt sich in meinen Prozessen durch das Victim Blaming.
Die Opfer werden beschuldigt?
Bei fast jeder meiner Klientinnen steht der Generalverdacht im Raum, dass sie sich mit ihren Vorwürfen nur Vorteile bei der Scheidung verschaffen will. Nach dem Motto: Die will dem Mann aus Rache etwas anhängen und sich Unterhaltsansprüche sichern oder ihm die Kinder wegnehmen. Meine Klientinnen müssen ja meist mehrere Prozesse gegen die Täter führen: Strafverfahren, Scheidungsverfahren und wenn gemeinsame Kinder da sind, gibt es auch noch ein Obsorgeverfahren.
Sie sagen, dass dann vor Gericht oft vieles schiefläuft. Was zum Beispiel?
Man muss als Opferanwältin kreativ sein, denn im Strafverfahren gibt es eigentlich sehr viele Opferrechte, die scheitern nur oft an der Realität. Zum Beispiel muss ein Opfer den Täter im Gerichtssaal nicht sehen. Es gibt die Möglichkeit der Videovernehmung. Aber dann sind nicht ausreichend ausgestattete Säle vorhanden. Zum Beispiel hat das große Straflandesgericht in Wien dreißig Säle – doch nur drei haben eine Videoausstattung. Wir beantragen dann, dass der Täter in das Beratungszimmer abgeführt werden soll, das direkt neben dem Gerichtssaal liegt. Er kann alles hören, sie muss ihn aber nicht sehen. Allerdings sitzt sie anschließend beim Obsorgeverfahren mit ihm in einem Zimmer und muss für den Schutz ihrer Kinder streiten. Und wenn sie Pech hat, wird sie auch noch zu einer gemeinsamen Elternberatung verdonnert. Das kann alles schwer retraumatisierend wirken.
Das hört sich sehr frustrierend an, wie sind Sie Opferanwältin geworden und warum dabeigeblieben?
Nach meinem Jurastudium wollte ich etwas im sozialen Bereich machen. Häusliche Gewalt ist mir gar nicht eingefallen, weil sie im Studium nicht vorkam. Zufällig las ich die Annonce meiner heutigen Kanzleipartnerin, sie arbeitete im Familienrecht und im Opferschutz. Es war die einzige Stelle, auf die ich mich je beworben habe. Ich habe mich in diesem Bereich gefunden und will nichts anderes machen. Bei mir melden sich nur Frauen, die von psychischer oder körperlicher Gewalt betroffen sind. Es ist ein Thema, in dem ich mich starkmachen kann, gerade weil ich gegen so viele systemimmanente Hürden ankämpfen muss.
Häusliche Gewalt – ein europaweites Problem
Eine von fünf Frauen hat mindestens einmal körperliche oder sexuelle Gewalt durch ein männliches Mitglied ihres Haushalts erfahren, so das Ergebnis einer EU-Erhebung über geschlechtsspezifische Gewalt, die von 2020 bis 2024 durchgeführt wurde. Die Studie ergab auch, dass Betroffene wenig Vertrauen in Polizei und Hilfsorganisationen haben: Nur eine von fünf Frauen, die Gewalt erlebt haben, hat sich an einen Gesundheits- oder Sozialdienst gewandt, und nur eine von acht hat den Vorfall bei der Polizei angezeigt.
Gewalt gegen Frauen: Die Lage bei uns
Die Expertengruppe des Europarates für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (GREVIO) hat Österreich zuletzt 2023 überprüft und in ihrem Bericht 2024 gerügt. Die wichtigsten Inhalte:
- Es gebe zu viele Verfahrenseinstellungen und zu wenig Verurteilungen.
- Die österreichische Regierung wurde „nachdrücklich“ dazu aufgefordert, die Justiz, vor allem die Strafgerichte und Staatsanwaltschaften, aber auch die Polizei und das Krankenhauspersonal verpflichtend zu schulen.
- Das Thema Gewalt gegen Frauen sollte schon im Jurastudium Pflicht sein.
- Häusliche Gewalt wird oft als Elternkonflikt abgetan. Wenn Kinder keine körperliche Gewalt erlebt haben, wird das nicht unbedingt als Kindeswohlgefährdung eingestuft. Immerhin gibt es in Österreich seit 2019 ein Gesetz, das Tätern nach häuslicher Gewalt vorschreibt, sechs Stunden Gewaltpräventionsberatung zu absolvieren.
Hilfe finden Betroffene rund um die Uhr kostenlos bei der Frauenhelpline gegen Gewalt: 0800 222 555.