Migräne: Die Ursachen – und was helfen kann
Millionen leiden unter den chronischen Kopfschmerzen. Doch längst nicht alle suchen ärztlichen Beistand. Dabei gibt es wirksame neue Medikamente – und unterstützende Hausmittel im Alltag –, die gegen Migräne helfen können.
Erst kribbelt es im Nacken, dann zieht sich ein pochender Schmerz von der Schläfe über das Auge. Licht blendet. Geräusche tun weh. Jede Bewegung verstärkt das Leid. Für rund eine Million Menschen in Österreich ist Migräne kein leichter Kopfschmerz, sondern wiederkehrender Alltag – mit tiefgreifenden Folgen für Beruf, Familie und Lebensqualität.
Rund die Hälfte der Betroffenen hat sich noch nie medizinisch untersuchen lassen. „Gerade Frauen neigen dazu, Migräne auf die leichte Schulter zu nehmen“, sagt Dr. Nora Hennes-Hergovich, Neurologin in einem öffentlichen Wiener Spital und mit Praxis in Wien-Neubau. „Sie kommen mit der Vermutung Spannungskopfschmerz zu mir, aber oft steckt eine schwere Migräne dahinter.“ Die Krankheit sei nach wie vor mit vielen Vorurteilen behaftet und werde nicht primär als neurologische Erkrankung gesehen. Ein großes Missverständnis zudem: Migräne ist keine reine „Frauenkrankheit“– auch wenn Frauen etwa dreimal häufiger betroffen sind als Männer. Bei ihnen wird Migräne viel zu selten diagnostiziert.
Wenn das Gehirn Blitze sendet
Migräne ist mehr als Kopfschmerz. Sie kann chronisch sein oder in Episoden verlaufen. In den verschiedenen Lebensphasen wie Pubertät oder Wechseljahre kann sie sich in ihrer Art und Stärke verändern. Typisch ist ein halbseitiger, pulsierender Schmerz, oft begleitet von Übelkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit. Einige Patientinnen und Patienten erleben auch eine sogenannte Aura – visuelle Phänomene wie Flimmern oder schwarze Punkte. „Die Ursache von Migräne liegt nicht in der Psyche“, betont Prof. Dr. Christian Wöber, Leiter der Kopfschmerzambulanz an der Universitätsklinik Wien. „Sie hat klar nachgewiesene neurobiologische Grundlagen.“ Was im Gehirn passiert, ist hochkomplex: Migräne entsteht durch eine Fehlregulation im zentralen Nervensystem und im Bereich des sogenannten Trigeminusnervs, der viele Schmerzreize aus dem Kopf- und Gesichtsbereich verarbeitet.
Bei einem Migräneanfall werden bestimmte Botenstoffe wie CGRP (Calcitonin Gene-Related Peptide) ausgeschüttet, die die Entzündungsreaktionen im Gehirn fördern. Gleichzeitig verändert sich die Reizverarbeitung in der Hirnrinde – das Gehirn reagiert überempfindlich auf Licht, Geräusche und andere Sinneseindrücke. Die Neigung zu Migräne ist angeboren, die Reaktion kann aber durch sogenannte Trigger wie Hormonschwankungen, Stress und Schlafmangel ausgelöst werden. Die Vorstellung, Migräne wäre typisch für ehrgeizige, perfektionistische Menschen, ist ein Klischee: „Oft wird den Patientinnen und Patienten undifferenziert geraten, einen Gang runterzuschalten und mehr zu entspannen. Doch ein gewisses Ausmaß an Stress gehört zum Leben aller Menschen. Nimmt Stress überhand, bedarf es aber gezielten Gegensteuerns.“
Migräne – Die verkannte Volkskrankheit
- 1 Million Österreicherinnen und Österreicher sind von Migräne betroffen.
- Das Verhältnis Frauen zu Männern beträgt 3:1.
- Die meisten Menschen, die an Migräne leiden, sind zwischen 20 und 50.
- Eine chronische Migräne (mehr als 15 Kopfschmerztage pro Monat) entwickeln etwa 2 Prozent der Weltbevölkerung.
- Mehr als die Hälfte der Betroffenen erlebt durch die Anfälle schwere Beeinträchtigungen.
Der Schmerz lässt sich zähmen
Heilbar ist Migräne nicht. Doch sie lässt sich behandeln – je früher, desto besser. „Der wichtigste Schritt in meiner Praxis ist die Anamnese“, sagt Neurologin Hennes-Hergovich. „Also zu klären: Sind es wirklich Migräneattacken – oder ist es eine Kombination zum Beispiel mit Spannungskopfschmerzen?“ Der Ärztin hilft dabei vor allem ein Kopfschmerztagebuch, das man z. B. online herunterladen kann (siehe
Kasten). „Wann treten die Attacken auf, haben sie einen Auslöser, stehen sie mit der Periode in Verbindung?“ Auch internistische Ursachen müssen abgeklärt werden: Blutdruck, Herzgesundheit, Schilddrüsenfunktion, Eisen- und Vitamin-D-Spiegel im Blutbild.
Die gute Nachricht: In den vergangenen Jahren hat sich die medikamentöse Migränetherapie deutlich weiterentwickelt. Neben klassischen Schmerzmitteln wie Ibuprofen oder ASS, die bei leichten Attacken helfen können, stehen gezielte und teilweise hochspezifische Medikamente gegen Migräne zur Verfügung. Allen voran: Triptane. Sie gehören zur Gruppe der Serotoninagonisten, wirken direkt an den Schmerzrezeptoren im Gehirn und hemmen die Entzündungsprozesse. Besonders wichtig ist dabei das richtige Timing: „Triptane wirken am besten, wenn sie frühzeitig eingenommen werden“, sagt Dr. Nora Hennes-Hergovich. Menschen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten die Einnahme jedoch unbedingt vorher ärztlich abklären lassen.
Fürs Gehirn: Jogging
Um das Risiko von Migräneattacken zu mindern, wird u. a. regelmäßiger Ausdauersport empfohlen
Für die Behandlung von häufigen oder schweren Migräneanfällen gibt es seit einigen Jahren eine neue Medikamentenklasse: die CGRP-Antikörper. Sie blockieren das Schmerzbotenstoff-Molekül CGRP, das bei Migräne in übermäßiger Menge ausgeschüttet wird. Die Antikörper werden einmal im Monat unter die Haut oder alle drei Monate als Infusion verabreicht. „Die Medikamente wirken nicht bei allen, aber bei vielen sehr gut“, sagt Prof. Christian Wöber. Sie gelten als Meilenstein der Migräneforschung. Eine weitere neue Option sind Gepante, also kleine Moleküle, die ebenfalls CGRP blockieren und als Tablette eingenommen werden können. Sie sind vor allem für Menschen interessant, die keine Triptane vertragen oder bei denen diese nicht wirken.
Migräne im Alltag effektiv vorbeugen
Am wirksamsten ist wohl eine Kombi aus Medikamenten und einem gesunden Lebensstil: Dreimal die Woche eine halbe Stunde Ausdauersport, genügend Schlaf, ausreichend Trinken, regelmäßige Mahlzeiten und gezielte Stressbewältigung bringen das überreizte Nervensystem zur Ruhe. Auch Magnesium, Vitamin B2 und Coenzym Q10 zeigen in Studien eine vorbeugende Wirkung bei Migräne. Minzöl oder Tigerbalsam können lokal kühlend wirken, während Bockshornklee zwar in der Naturheilkunde empfohlen wird – aber bislang ohne wissenschaftlich belegte Wirksamkeit blieb. Wer kann, sollte außerdem persönliche Migräne-Trigger so gut wie möglich reduzieren. „Histaminreiche Lebensmittel wie reifer Käse, Rotwein, geräuchertes Fleisch oder Sauerkraut zählen zu den häufigsten Auslösern“, erklärt Dr. Hennes-Hergovich. Histamin ist ein körpereigener Botenstoff, der bei empfindlichen Personen entzündungsfördernd wirkt und in Verbindung mit Migräneattacken gebracht wird. Der Körper reagiert auf eine erhöhte Histaminbelastung zum Beispiel mit Gefäßerweiterung – ein Mechanismus, der auch bei Migräne eine zentrale Rolle spielt.
Manche Patientinnen und Patienten profitieren daher von einer histaminarmen Ernährung – das kann aber individuell unterschiedlich sein. Auch Schlafmangel, unregelmäßige Tagesabläufe, viel Bildschirmzeit, Hormonverschiebungen oder psychische Belastungen können Attacken provozieren. Selbst das Wetter, Lärm oder grelles Licht können triggern. „Wichtig ist daher, ein Gespür für den eigenen Körper zu entwickeln“, sagt Neurologin Hennes-Hergovich. Dabei hilft zum Beispiel ein Kopfschmerztagebuch, das Muster sichtbar macht. Und: Symptome ernst zu nehmen – bei sich selbst, aber auch bei den eigenen Kindern. Denn Migräne ist vererblich. Je früher die richtige Diagnose gestellt wird, desto besser lässt sich gegensteuern – mit individuell passenden Strategien.
Hier findet man Hilfe
- Kopfschmerzambulanzen: Universitätsklinik für Neurologie/AKH Wien, Universitätsklinik für Neurologie Graz, Universitätsklinikum Innsbruck, Kopfschmerzambulanz Christian-Doppler-Klinik Salzburg.
- Migräne-Selbsthilfegruppen, z. B. kopfwehoesterreich.at
- Apps zum Kopfschmerztagebuch, z. B. „Kopfschmerzkalender Pro“.
- Psychotherapeutinnen und -therapeuten mit Erfahrung in Schmerztherapie – auf Websites nach „Kopfschmerz“ oder „Migräne“ suchen.
- Buchtipp: „Kopfschmerz. Richtig zuordnen, gezielt behandeln“, von Çiçek Wöber-Bingöl und Christian Wöber, um 24 Euro.