Es war eine bedrohliche Situation: Als die Taliban 2021 in Afghanistan die Macht übernahmen, war Tea Jaliashvili gerade im Nachbarland Tadschikistan für die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) im Einsatz. Es habe die Gefahr bestanden, dass auch andere Länder der Region beeinflusst würden, sagt die 48-Jährige. Wie immer sorgte sie sich besonders um die Rechte der Frauen. Denn Gleichberechtigung ist für sie neben freien Wahlen eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie. Als Erste Stellvertretende Direktorin des OSZE-Büros für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau arbeitet Tea Jaliashvili mit Aktivistinnen und Aktivisten verschiedenster Länder zusammen und unterstützt zivilgesellschaftliche Organisationen im Kampf gegen Diskriminierung. Wir sprachen mit ihr über Erfolge, Rückschläge und ihre eigene Work-Life-Balance als Mutter von zwei Kindern.

Was macht eigentlich die OSZE?

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) versteht sich als „politisches Dialogforum für ein breites Spektrum von Sicherheitsfragen und als Plattform für gemeinsames Handeln“. Zu den derzeit 57 Teilnehmerstaaten gehören die europäischen Länder, die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, die Mongolei sowie die USA und Kanada. Das Hauptquartier ist in Wien. Für Wahlbeobachtungen ist das Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) in Warschau zuständig. Alle teilnehmenden Länder haben sich verpflichtet, Beobachter aus anderen OSZE-Staaten zu akzeptieren. Das ODIHR will Wahlen nicht beurteilen, sondern überprüfen, helfen und Transparenz schaffen. Im vergangenen Jahr beklagte Matteo Mecacci, Direktor des ODIHR, dass die freiwillige Verpflichtung „in einigen Ländern an Bedeutung“ verloren habe. So hatte zum Beispiel Russland für die Präsidentschaftswahl 2024 Wahlbeobachter zum ersten Mal seit 1993 ausgeladen.

Gibt es Fortschritte bei Frauenrechten, die Sie hervorheben möchten?

Dieses Jahr jährt sich die Pekinger Weltfrauenkonferenz zum 30. Mal, damals wurden eine Reihe internationaler Maßnahmen zur Stärkung der Gleichstellung der Geschlechter beschlossen. Seitdem wurden in der OSZE-Region weitreichende Entwicklungen vorangetrieben, um die volle und gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in der Politik zu erreichen. Die OSZE-Länder haben die durchschnittliche Zahl weiblicher Parlamentarier – unter anderem durch die Einführung von Geschlechterquoten – auf fast 32 Prozent verdreifacht. In vielen Ländern erleben wir derzeit jedoch eine Mobilisierung gegen Gleichstellungsgesetze wie die Frauenquote.

Wie beurteilen Sie die Situation weltweit?

Wenn man das 21. Jahrhundert mit dem 20. vergleicht, haben die Frauenrechte Fortschritte gemacht, es gibt Verbesserungen. Aber das ist nicht genug, und der Rückschritt bei der Gleichstellung der Geschlechter nimmt im Moment leider eher zu. Dieser Trend macht an keiner Grenze halt, sondern ist transnationaler Natur und geht oft insgesamt mit demokratischen Einschränkungen einher. Beim ODIHR arbeiten wir daran, diesen Trend umzukehren. Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist es, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten mit Regierungen zusammenzubringen, etwa um die Vorteile der Gleichstellung der Geschlechter für die gesamte Gesellschaft zu diskutieren.

Was bereitet Ihnen besondere Sorge?

Ein großes Thema für mich sind die Kürzungen im sozialen Bereich, die vor allem Frauen treffen. Konkret: Wenn es keine Kinderbetreuung gibt, können sie nicht arbeiten gehen. Und was das Gesundheitssystem anbelangt, würde ich definitiv nicht behaupten wollen, dass die Rechte der Frauen heute gut sind. In sehr vielen Ländern gibt es für sie keine ausreichende und angemessene medizinische Versorgung.

Die OSZE ist vor allem für ihre Wahlbeobachtungen bekannt …

Ja, das ist so etwas wie unsere Kernkompetenz. Unser Ziel war von Beginn an, die Wahlen zu beobachten, denn korrekte Stimmabgaben sind die Basis für legitime Regierungen in der Demokratie. Wir haben schon vor 30 Jahren eine umfassende Methode entwickelt, die in der ganzen Welt respektiert wird. Wir beobachten Wahlen in Ländern der ganzen OSZE Region, manchmal nur mit einem kleinen Team, etwa in Deutschland oder der Schweiz, manchmal umfangreicher, wie in Georgien oder Moldawien, aber stets nach der gleichen Methodologie in jedem Land.

Was sind außerdem die Aufgaben von ODIHR?

Die OSZE basiert auf der Erkenntnis, dass dauerhafte Sicherheit nicht ohne Achtung der Menschenrechte und starke demokratische Institutionen erreicht werden kann. Zu diesem Zweck hat das ODIHR ein umfangreiches Mandat, um alle OSZE Länder bei der Stärkung ihrer demokratischen Institutionen, der Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte zu unterstützen. Unsere Aktivitäten reichen von der Wahlbeobachtung über die Schulung der Polizei zur Erkennung und Verfolgung von Hassverbrechen bis hin zur Entwicklung praktischer Leitfäden, die OSZE den Ländern helfen, gleichberechtigter und integrativer zu werden. Außerdem arbeitet das ODIHR eng mit der Zivilgesellschaft zusammen, was mir persönlich sehr wichtig ist.

Wie sind Sie dazu gekommen, sich für Frauen- und Menschenrechte einzusetzen?

Ich bin in Tiflis in einer patriarchalischen Gesellschaft aufgewachsen. Ein solches Umfeld ist weder gut für Frauen- noch für Menschenrechte im weiteren Sinne. Als Mädchen sah ich viele gut ausgebildete Frauen, die so viel Potenzial hatten, sich beruflich weiterzuentwickeln, aber zu Hause die Care-Arbeit erledigen mussten. Obwohl es gut und wichtig ist, sich um Kinder zu kümmern, denke ich, dass es jeder Frau ermöglicht werden sollte, dass sie sich auch außerhalb des Haushalts erfolgreich engagieren kann.

War das auch in Ihrer Familie so?

Meine Mutter ist ein Beispiel für so eine gut ausgebildete Frau. Sie arbeitete als Ärztin und Kardiologin, es war noch zu Zeiten der Sowjetunion. Sie hatte aber keine Möglichkeit, ihre Karriere voranzutreiben. Nach der Arbeit musste sie jeden Tag nach Hause eilen, für mich und meinen Bruder kochen, waschen, unsere Schulaufgaben betreuen. Sie war für den Haushalt zuständig, hatte keine Chance, auch noch im Beruf besonders zu glänzen. Mein Vater war für diese Zeit zwar modern und aufgeschlossen eingestellt, er unterstützte meine Mutter und meinen Bruder und mich gleichermaßen. Aber er kam nach Hause, wenn es seine Arbeit als Anwalt zuließ. Er konnte zu spät kommen, er durfte unterwegs sein, solange er wollte. Sein Beruf stand an erster Stelle, obwohl man ja objektiv nicht sagen kann, dass ein Anwalt wichtiger ist als eine Ärztin. Aber mein Vater galt als der Ernährer, er war für das Familieneinkommen zuständig. Das fand ich schon als Kind nicht gerecht.

Sie haben wie Ihre Mutter Medizin studiert.

Nicht nur, ich habe drei Universitätsabschlüsse: in Medizin, in öffentlicher Verwaltung und Politik sowie in internationalen Menschenrechten. Ich war ein „Gigla“, so nennt man in meinem Heimatland Georgien Menschen, denen das Studieren über alles geht. „Gigla, geh mal raus und genieße dein Leben“, sagte man zu mir. Ich lernte oft bei Kerzenlicht, weil die Strom- und auch die Wasserversorgung damals in Georgien nicht immer funktionierte.

Wann haben Sie dann Ihre politische Karriere begonnen?

Mit Mitte zwanzig, nach dem Medizinstudium. Noch neben den weiteren Studien war ich im georgischen Gesundheitsministerium tätig, anschließend bei verschiedenen internationalen Organisationen. Vor fünf Jahren habe ich bei der OSZE angefangen, zuerst war ich im sogenannten Programmbüro in Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans. Dort ging und geht es um Themen wie Terrorismus, Menschenhandel, Waffen- und Drogenhandel, Wirtschafts- und Umweltprobleme, Menschenrechte, Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit. Ich erlebte, wie im Nachbarland Afghanistan die Taliban die Macht übernahmen. Es war wichtig, sicherzustellen, dass die negativen Folgen nicht auf andere Teile der Region überschwappen konnten. Dies hätte die Sicherheit und die Rechte der Frauen in ganz Zentralasien gefährdet.

Wie bringen Sie selbst Kinder und Karriere unter einen Hut?

Ich muss zugeben, dass der Versuch, eine Balance zu finden, nicht nur eine enorme Herausforderung ist, sondern oft auch ein Desaster! Obwohl meine Familie mich ganz und gar unterstützt. Meine Tochter sagt mir oft, dass ich zu viel arbeite. Ich würde gerne mehr Zeit mit meinen Kindern verbringen und weiß, dass ich manche Meilensteine in ihrem Leben verpasse. Andererseits hatten sie durch meine Arbeit die Möglichkeit, zu reisen und die Welt besser zu verstehen, und das werden sie später einbringen können. Seit ich beim ODIHR bin, wohnen wir in Warschau. Ich mag diese Stadt mit ihren breiten Straßen und Boulevards sehr. Ich bin inspiriert von ihrer Energie und vom Kulturleben. Mein Sohn ist jetzt 14 Jahre und als Schulkind noch zu Hause, meine 19-jährige Tochter studiert in den Niederlanden.

Was bedeutet für Sie eine gerechte Gesellschaft?

Für mich ist eine gerechte Gesellschaft eine, in der es keine Diskriminierung gibt, in der alle Menschen denselben Zugang zu hochwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung haben – einige der wichtigsten Indikatoren. Und eine gerechte Gesellschaft ist auch eine, in der Mädchen und Frauen die gleichen Chancen haben, sich zu entwickeln und zu wachsen. In der es keine Korruption gibt. Und in der jeder frei ist, entscheiden kann, was sie oder er mit seinem Leben macht, außerdem offen und ohne Angst sprechen kann.

Fühlen Sie sich manchmal machtlos angesichts von Rückschritten?

Nein, ich fühle mich nicht machtlos, denn egal ob es Rückschritte oder Stagnation gibt, wir sehen immer auch positive Entwicklungen. Der Fortschritt erfolgt definitiv nicht schnell genug, und manchmal bewegen sich einige Länder zurück, aber insgesamt ist er vorhanden.

Gleiche Chancen für alle?

Wie viel für eine gerechte Welt noch zu tun ist, zeigen diese Beispiele:

  • Nur 6,7 Prozent aller Staatsoberhäupter sind weiblich.
  • Mädchen sind fünfmal häufiger von Kinderehen betroffen als Jungen.
  • Zwei Drittel der Analphabeten sind Frauen.
  • 1,1 MilliardenMenschen, davon 570 Millionen Kinder, leben in Armut ohne Zukunftsperspektiven.