Interview mit einem Eisforscher über Schneekristalle
Er lässt Schneekristalle im Labor wachsen, bannt sie für die Ewigkeit und hat Disney beim Film „Die Eiskönigin“ beraten: Ein Interview mit dem Physiker Prof. Kenneth Libbrecht über die Geheimnisse dieser Naturwunder.
Inhaltsverzeichnis
- Prof. Libbrecht, worin genau besteht der Unterschied zwischen Schneekristallen und Schneeflocken?
- Die Entstehung von Schneekristallen ist Ihr Forschungs- und Lebensthema. Was ist für Sie da der magischste Moment?
- Und im Labor?
- Können uns Schneekristalle etwas über die Zerbrechlichkeit unseres Ökosystems lehren?
- Sie gelten als der weltweite Experte für Schneekristalle, verstehen sie laut eigenen Aussagen aber auch nicht komplett.
- Man sagt, dass keine zwei Schneekristalle jemals gleich sind. Stimmt das?
- Was verrät die Struktur eines Schneekristalls denn über seinen Weg durch die Atmosphäre?
- Gibt es überhaupt perfekte Schneekristalle oder liegt ihre Schönheit gerade in ihrer Unvollkommenheit?
- Wann hat Ihre Faszination eigentlich begonnen?
- Sprechen wir über Ihre Mitarbeit beim Disney-Film „Die Eiskönigin“. Wie kamen Sie dazu, als sogenannter Schneeflocken-Berater zu arbeiten?
- Von all den wunderschönen Schneekristallen, die Sie für Ihre Bücher fotografierten, gibt es einen besonderen?
- Gibt es noch weitere überraschende Fakten zum Thema?
- Sind Schneeflocken also auch eine Allegorie darauf, was man bewirken kann, wenn man zusammenhält?
- Rückblickend auf Ihre vielen Jahre Arbeit: Worauf sind Sie am meisten stolz?
Es ist ein Tanz, den man nur unter dem Mikroskop sehen kann: Milliarden Wassermoleküle ordnen sich in filigranen Sechsermustern und wachsen zu sternförmigen Gebilden, jedes ein Unikat. Für Prof. Dr. Kenneth Libbrecht sind Schneekristalle Lehrstücke aus der Natur und zugleich kleine Kunstwerke, die vom Himmel fallen. Hier erklärt der 66-jährige Physiker, Fotograf und Autor, der an der Caltech University in Pasadena (Kalifornien) lehrt, warum selbst so etwas Winziges Geschichten von Zusammenhalt und versteckter Schönheit erzählen kann.
Prof. Libbrecht, worin genau besteht der Unterschied zwischen Schneekristallen und Schneeflocken?
Ein Schneekristall ist die kleinste Einheit von Schnee, also ein einzelner, meist sechseckiger Eiskristall, der in der Atmosphäre entsteht. Eine Schneeflocke ist das, was wir vom Himmel fallen sehen: meist ein Zusammenschluss mehrerer Kristalle, die sich unterwegs verbinden. Kurz gesagt: Schneekristalle sind die Bausteine, Schneeflocken das fertige Gebilde.
Die Entstehung von Schneekristallen ist Ihr Forschungs- und Lebensthema. Was ist für Sie da der magischste Moment?
Es kommt drauf an, ob ich draußen oder im Labor bin. Die schönsten Kristalle entstehen bei circa. Minus 15 Grad Celsius. Es ist also richtig kalt und man weiß nie, was einen da erwartet. Die meisten Kristalle sind nämlich nicht so hübsch, sie verklumpen, brechen auseinander. Aber ab und zu erwischt man einen perfekten – wie ein Kunstwerk, das einfach so vom Himmel fällt. Um die Kristalle festzuhalten, hebe ich sie mit einem feinen Pinsel vorsichtig auf ein Glasplättchen und setze sie so schnell wie möglich in meine selbst gebaute Mikroskop-Kamera. Der Wind ist dabei mein größter Feind! Die Kamera ist so groß, dass ich sie im Kofferraum meines Autos mit mir herumfahre. Der magische Gedanke dabei: Es ist nur Wasser, das zu Eis gefriert, mehr nicht. Und trotzdem ist es ein kleiner Nervenkitzel, wenn man ein wirklich gelungenes Exemplar unter dem Mikroskop vorfindet. Vielleicht gerade weil seine Schönheit so vergänglich ist.
Und im Labor?
Da sitze ich im T-Shirt in einem warmen Raum, während alles in einer isolierten Kältekammer abläuft. Das ist viel kontrollierter. Da steckt die Magie woanders: Ich bin in der Lage, schöne Kristalle wachsen zu lassen, und kann oft sogar voraussagen, was passiert. Ich nenne das meine „Designer-Kristalle“. Für einen brauche ich circa 45 Minuten. Da drehe ich an den Knöpfen meiner Kältekammer, verändere Temperatur und Luftfeuchtigkeit, und der Kristall macht fast, was ich will. Das ist ebenfalls kunstvoll, nur dass ich nicht mit Pinsel oder Meißel arbeite, sondern die Natur quasi anstupse.
Können uns Schneekristalle etwas über die Zerbrechlichkeit unseres Ökosystems lehren?
In ihrer Beschaffenheit verändern sie sich durch Klimawandel oder Umweltverschmutzung nicht. Allerdings werden wir sie durch das wärmere Klima wohl nicht mehr so häufig antreffen. Früher gab es z. B. im US-Bundesstaat Vermont fantastische Schneekristalle, heute kaum noch. Um sie zu sehen, muss man also immer weiter nördlich reisen. Die Menschen in Alaska beispielsweise, die bei Temperaturen von minus 40 Grad leben, sehen in Zukunft sicher die schönsten Schneekristalle. Weitere Veränderungen lassen sich nicht voraussagen, denn die Natur ist sehr komplex und voller Überraschungen.
Sie gelten als der weltweite Experte für Schneekristalle, verstehen sie laut eigenen Aussagen aber auch nicht komplett.
In der Physik merkt man schnell: Etwas vollständig zu verstehen, ist unglaublich schwer. Als ich im Studium Quantenmechanik hatte, begannen wir mit dem Wasserstoffatom – das simpelste überhaupt. Aber je mehr ich lernte, desto klarer wurde mir, wie kompliziert selbst dieses kleinste System ist. Bei Schneekristallen – letztendlich Variationen von rund 35 Grundformen – ist es ähnlich. Es geht nicht nur um viele Wassermoleküle, sondern um einen dynamischen Wachstumsprozess. Das Ganze ist komplex, weil immer unzählige Moleküle gleichzeitig beteiligt sind. Es gibt Theorien, manche schon hundert Jahre alt, vieles ist bekannt, anderes nicht. Ein Schneekristall lässt sich noch nicht einmal komplett am Computer simulieren.
Man sagt, dass keine zwei Schneekristalle jemals gleich sind. Stimmt das?
In gewisser Weise schon, es ist wie bei eineiigen Zwillingen. Sie können sehr ähnlich sein, aber nie zu 100 Prozent. Bei ihrem Wachstum spielen zu viele unterschiedliche Faktoren mit.
Was verrät die Struktur eines Schneekristalls denn über seinen Weg durch die Atmosphäre?
Einiges! Ein säulenförmiger Kristall zum Beispiel deutet auf Wachstum bei etwa minus fünf bis minus sechs Grad hin. Plattenartige Kristalle entstehen knapp unter dem Gefrierpunkt. Und die schönen, klassisch ausgeprägten Sternkristalle entstehen, wie gesagt, bei etwa minus 14, 15 Grad Celsius.
Gibt es überhaupt perfekte Schneekristalle oder liegt ihre Schönheit gerade in ihrer Unvollkommenheit?
Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Mich faszinieren die „perfekten“ im Labor tatsächlich mehr. Unvollkommenheiten gibt es zuhauf in der Natur, dagegen ist es ein Glücksfall, Symmetrie zu finden. In den Wolken hört ein Kristall oft auf zu wachsen, bevor er wirklich perfekt ist, und auf dem Weg nach unten verdunstet er, die Kanten werden rund. Im Labor dagegen fotografieren wir sie schon beim Wachsen, die Facetten sind dann sehr scharf, fast wie wertvolle Edelsteine.
Wann hat Ihre Faszination eigentlich begonnen?
Vor etwa 25 Jahren. Ich war damals mit einem ganz anderen Projekt beschäftigt, es ging um Gravitationswellen. Große Wissenschaft, Milliardenkosten, Tausende Leute weltweit involviert. Daneben fing ich an, mich mit Schneekristallen zu beschäftigen – winziger Maßstab, ein paar Tausend Dollar für Geräte, zwei Studenten. Irgendwann hat mich dieses Nebenprojekt immer mehr gepackt, sodass ich mich vor einigen Jahren ganz darauf konzentrierte.
Sprechen wir über Ihre Mitarbeit beim Disney-Film „Die Eiskönigin“. Wie kamen Sie dazu, als sogenannter Schneeflocken-Berater zu arbeiten?
Ich saß in meinem Büro, als das Telefon klingelte. Am anderen Ende war jemand von Disney: „Wir arbeiten an einem Film, der in einem kalten Klima spielt und wollen perfekte Schneeflocken zeigen – können Sie uns helfen?“ Ich fuhr hin, verbrachte den Tag bei Disney. Sie hatten eines meiner Bücher aufgerissen und die Seiten überall an die Wand geklebt. Ich sagte ihnen die einzige Sache, die mir wichtig war: Macht sie sechseckig, nicht fünf-, nicht vier-, nicht achteckig – Schneekristalle haben sechs Ecken, manchmal zwölf. Es war eine intensive Zusammenarbeit und sie haben das großartig umgesetzt, auch in Elsas Haaren und Kleidung glitzerten Schneekristalle. Ganz am Ende des Film-Abspanns, nach etwa 20 Minuten Credits, sah ich meinen Namen auf der Kinoleinwand und meine Tochter machte gleich ein Foto davon.
Von all den wunderschönen Schneekristallen, die Sie für Ihre Bücher fotografierten, gibt es einen besonderen?
Wenn Sie fragen: „Haben Sie ein Lieblingskind?“ – nun, die Antwort ist immer Nein. (lacht herzlich) Sicherlich gibt es einige atemberaubende, die ich draußen in der Natur fotografiert habe. In Hokkaido z. B. oder in Nordschweden, oberhalb des Polarkreises. Einmal war ich im Norden Ontarios in Kanada, einem Ort mit viel Schnee und wenig Wind. Eines Tages fielen diese Kristalle vom Himmel – riesig, wie kleine Schneeblüten. Ich war perplex, sie waren sogar zu groß für meine Mikroskop-Kamera. Der größte maß von Spitze zu Spitze einen Zentimeter – was riesig ist – und ich schaffte es, ihn als größten Schneekristall der Welt ins „Guinness-Buch der Rekorde“ zu bringen.
Gibt es noch weitere überraschende Fakten zum Thema?
Die einfache Erklärung dahinter, warum die Kristalle so symmetrisch sind. Wie wissen die verschiedenen Arme, in welcher Form sie wachsen? Nun, sie erleben dieselben Bedingungen zur gleichen Zeit. Wenn sich die Temperatur ändert, beeinflusst das das Wachstum. Meine Analogie dazu: Es regnet, man geht nach draußen, und plötzlich hat jeder einen Regenschirm dabei. Haben wir uns vorher alle angerufen und gesagt: „Nimm einen Regenschirm mit“? Nein. Wir sind nach draußen gegangen, haben gesehen, dass es regnet, und haben uns einen Regenschirm genommen. Wir haben unabhängig gehandelt, aber trotzdem kollektiv.
Sind Schneeflocken also auch eine Allegorie darauf, was man bewirken kann, wenn man zusammenhält?
Das und noch viel mehr. Es gibt ziemlich verrückte, säulenförmige Kristalle, sogenannte „capped columns“, die aussehen wie eine Achse mit zwei Rädern. Ich sah sie vor 25 Jahren erstmals in einem Buch und dachte, die müssten wahnsinnig selten sein. Als ich kurz darauf meine Familie in North Dakota besuchte, untersuchte ich den Schnee. Da waren sie, ich hatte sie nur vorher nie bemerkt. Ein gutes Beispiel dafür, dass man etwas übersieht, wenn man nicht weiß, dass es existiert. Wenn wir die Augen öffnen, finden wir so viel Schönes um uns herum!
Rückblickend auf Ihre vielen Jahre Arbeit: Worauf sind Sie am meisten stolz?
Ich wollte immer schon Filme von wachsenden Schneekristallen machen, weil das vor mir noch niemand getan hat. Das war eine Herausforderung, aber ich fand einen Weg. Außerdem bin ich stolz darauf, dass meine Fotografien auf Briefmarken gedruckt wurden. Und ich kam kürzlich hinter das Geheimnis äußerst seltener dreieckiger Schneekristalle. Diese wurden vor 150 Jahren entdeckt, blieben aber rätselhaft. Sobald ich mein Modell des gesamten Prozesses berechnet hatte, konnte ich es erklären! Das Modell sagte voraus, dass die dreieckigen Kristalle nur unter sehr spezifischen Bedingungen wachsen. Ich stellte das im Labor nach: Nur ein sehr enger Bereich führte zu dreieckigen Kristallen, danach wurden sie wieder sechseckig. Es war einer dieser Momente, warum ich Physiker wurde und Schneekristalle liebe: Vieles daran ist wunderschön rätselhaft, und wenn man die Erklärung dafür findet, macht es das nur umso faszinierender!