Florence Anselmo spricht über die Arbeit der Vermisstenstelle des Roten Kreuzes
„Mich bewegt die Tapferkeit der Familien“: Als Leiterin der Vermisstenstelle des Roten Kreuzes setzte sich Florence Anselmo für Menschen ein, die durch Krieg, Migration und Katastrophen von ihren Angehörigen getrennt wurden. Jede einzelne Zusammenführung ist dabei ein Meilenstein.
Inhaltsverzeichnis
- Können Sie uns von einer erfolgreichen Familienzusammenführung erzählen?
- Wie verlief Ihre Reise zur Übergabe?
- Hatten Sie Angst, dass er stirbt?
- Am nächsten Tag erreichten Sie dann sein Dorf?
- Aber vermutlich sind solche Erfolge die Ausnahme?
- Wie kamen Sie zum Roten Kreuz?
- Was genau ist die Aufgabe der Central Tracing Agency?
- Wie gehen die Helferinnen und Helfer der CTA vor?
- Was hat Sie über die Jahre bei Ihrer Arbeit angetrieben?
- In diesem Herbst werden Sie eine neue Aufgabe beim Roten Kreuz übernehmen, wie sah Ihr typischer Arbeitstag als Leiterin der Suchstelle aus?
- Sie waren auch in Palästina …
- Im Ukraine-Krieg suchen Sie auch nach russischen Vermissten?
- Sie bringen auch die Toten nach Hause?
- Rettung in vielen Notlagen
Sie bleibt meist im Hintergrund, die Arbeit der vielen Helferinnen und Helfer des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Nur manchmal – etwa bei spektakulären Geisel-Freilassungen wie im Mai in Israel – sieht man die Frauen und Männer zurückhaltend am Rande des Rampenlichts stehen. Florence Anselmo ist eine von ihnen: Neun Jahre lang hat sie die Zentrale Suchstelle, Central Tracing Agency (CTA), geleitet, die sich für vermisste Menschen und ihre Familien einsetzt. Die 51-Jährige, die mit ihrer elfjährigen Tochter in einem Dorf nahe Genf lebt, schildert im Interview ihre manchmal abenteuerlichen Einsätze.
Können Sie uns von einer erfolgreichen Familienzusammenführung erzählen?
Es war mein erster Auftrag 2001, der mir für immer im Herzen geblieben ist. Ich war ja als sehr junge Delegierte aus der friedlichen Schweiz in den Norden Kolumbiens entsendet worden. Wir hatten es geschafft, eine Freilassung zu organisieren: die eines Mannes, der seit sechs Monaten von einer bewaffneten Gruppe festgehalten wurde. Seine Familie hatte ich kennengelernt, seine Frau, seine Kinder, seine Verwandten – alle warteten voller Sorge auf ihn.
Wie verlief Ihre Reise zur Übergabe?
Kolumbien ist ein riesiges Land. Wir mussten weit fahren, um in das schwer zugängliche Gebiet zu gelangen. Wir passierten Frontlinien und durchquerten Gegenden, um die die Konfliktparteien stritten. Und dann, als er endlich bei uns im Auto war, hatten wir noch mindestens zwei Tage Rückreise vor uns. Der arme Mann war sehr gestresst und schwach, er hatte einiges durchgemacht. Er war krank. Wir mussten immer wieder anhalten, um ihm Zeit zum Ausruhen oder zum Erbrechen zu geben.
Hatten Sie Angst, dass er stirbt?
Es war für mich schon eine stressige Situation, denn ich wollte unbedingt, dass er seine Familie erreicht. Das war meine Mission. Abends machten wir dann einen Übernachtungs-Stopp. Seine Angehörigen hatten uns Kleidung und Hygieneartikel mitgegeben, damit er sich umziehen und frisch machen konnte. Er ging in sein Zimmer und als er zum Abendessen wieder herauskam, war er ein neuer Mensch. Er hatte sich rasiert. Trug neue Kleider. Er lächelte sogar.
Am nächsten Tag erreichten Sie dann sein Dorf?
Ja. Dort gab es eine Explosion der Freude, die Menschenmenge umringte und umarmte nicht nur ihn, sondern auch uns. Die Leute küssten mich. Wenn man als junger Mensch solche beruflichen Erfahrungen machen darf, vergisst man das nie.
Aber vermutlich sind solche Erfolge die Ausnahme?
Nein. Wir erreichen sehr viel. Hier eine weltweite Statistik aus dem Jahr 2024: Jede Minute verhelfen wir vier Familien, die durch Gewalt, Migration oder Katastrophen getrennt wurden, dazu, miteinander zu telefonieren. Jede Stunde klären wir die Schicksale von zwei Vermissten auf, und jeden Tag bringen wir 20 Menschen wieder nach Hause. Darauf bin ich stolz. Wir sind aber auch in jüngster Zeit mit einem exponentiellen Anstieg der Fallzahlen konfrontiert. Es sind nicht nur die vielen Kriege und bewaffneten Konflikte – der Ukraine-Krieg, die Krisen in Nahost sind große Aufgaben für uns –, auch Naturkatastrophen und gefährliche Migrationsrouten wie die über das Mittelmeer lassen immer mehr Menschen verschwinden.
Wie kamen Sie zum Roten Kreuz?
Nach dem Studium der Politikwissenschaft begann ich, in der Schweiz mit Asylsuchenden zu arbeiten. Damals kamen viele Menschen vom Balkan, insbesondere aus dem Kosovo. Ich verbrachte viel Zeit damit, mit jungen Männern, Familien oder Kindern zu sprechen. Und alle erzählten mir, was der Krieg ihnen genommen hatte, wie sehr sie sich nach ihrer Heimat sehnten. Deshalb wollte ich etwas bewegen für diese Menschen. Und dabei die Welt sehen, davon hatte ich schon immer geträumt. Ich lebte in der Nähe von Genf, wo das Rote Kreuz seinen Hauptsitz hat, also bewarb ich mich dort. Und wurde nach wenigen Wochen nach Kolumbien geschickt.
Oh, so schnell?
Wir hatten einen Monat lang einen Integrationskurs. Da haben wir zum Beispiel mit erfahrenen Kollegen bei einer Simulation im Wald bei Genf geübt, wie man sich in unbekanntem Gelände zurechtfindet. Wenn man den Kurs bestanden hat, bekommt man einen Umschlag, in dem ein Zettel mit dem Zielort steckt. „Sincelejo“ stand bei mir. Wo zum Teufel sollte das sein? Als ich hörte, es sei im Norden Kolumbiens, wies ich darauf hin, dass ich kein Spanisch spreche. Du kannst Italienisch, das lernst du ganz schnell, hieß es.
Was genau ist die Aufgabe der Central Tracing Agency?
Die CTA ist eine unserer ältesten Institutionen. Sie will Angehörige wieder zusammenbringen, sucht nach Vermissten, setzt sich für den respektvollen Umgang mit den Toten ein und unterstützt Angehörige auf der sehr schmerzhaften Reise, wenn ein Familienmitglied verschwunden ist. Das Rote Kreuz wurde vor mehr als 150 Jahren aus einem Krieg heraus gegründet, im Jahr 1863 vom Schweizer Geschäftsmann Henry Dunant, der nach der Schlacht von Solferino während des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieges die Notlage der verwundeten Soldaten erlebt hatte. Und Kriege sind auch heute noch die Umgebungen, in denen wir hauptsächlich unterwegs sind. Es gibt keinen Krieg, der nicht Familien auseinanderreißt, nicht zu vermissten Personen führt und in dem niemand getötet wird.
Wie gehen die Helferinnen und Helfer der CTA vor?
Die Rotkreuz-Bewegung hat ein Netzwerk, das wir „Family Links“ nennen, in dem sämtliche Büros der nationalen Gesellschaften des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds zusammengeschlossen sind. Wir arbeiten im Feld – so nennen wir unsere Einsatzgebiete – vor allem mit sehr vielen lokalen Freiwilligen. Diese Mitarbeiter gehen oft ein großes Risiko ein, etwa wenn sie zur letzten bekannten Adresse gehen oder Orte besuchen, an denen Gefangene festgehalten werden. Sie durchsuchen auch große Mengen an Daten und stehen den Familien bei. Sie sind unsere Helden.
Was hat Sie über die Jahre bei Ihrer Arbeit angetrieben?
Familien sind oft ziemlich isoliert in ihrem Schmerz. Und die Toten schweigen. Wenn die Leute an humanitäre Arbeit denken, meinen sie meist Wasser, Unterkunft, Nahrung, das ist natürlich alles elementar. In der Praxis sehen wir aber, dass Menschen in einer Krise oder in einem Notfall sich eines dringend wünschen: ihre Angehörigen zu sehen. Das gehört zum Prinzip Menschlichkeit, denn der Mensch ist ein Beziehungswesen. Und der Kern ist die Familie. Morgens aufzuwachen und zu wissen, dass es meine Aufgabe ist, Familien zusammenzuführen, macht mich glücklich.
In diesem Herbst werden Sie eine neue Aufgabe beim Roten Kreuz übernehmen, wie sah Ihr typischer Arbeitstag als Leiterin der Suchstelle aus?
Ich leitete etwa regelmäßig Treffen von nationalen Gesellschaften des Roten Halbmonds und des Roten Kreuzes auf allen fünf Kontinenten. Ich koordinierte vor allem von der Zentrale aus, managte alles Mögliche, wie unsere Finanzkrise wegen rückläufiger Spenden vor zwei Jahren oder den gehackten Zentralcomputer. Ich bin nur noch selten im Feld, das bedauere ich ein wenig. Aber ich durfte ja meine Erfahrungen sammeln.
Sie waren auch in Palästina …
Ich kenne zumindest das Westjordanland und Jerusalem sehr gut, weil ich insgesamt fast zwölf Jahre in dieser Region verbracht habe. Zeitweise habe ich für die UNRWA gearbeitet, die UN-Agentur für palästinensische Flüchtlinge. In Palästina ging es um Menschen, die von Israel festgehalten wurden. Heute sehen wir dasselbe bei den israelischen Geiseln der Hamas. Aus meiner Zeit in Palästina verinnerlichte ich ein Bild, das ich auf der ganzen Welt immer wieder gesehen habe, im Nahen Osten, in Südamerika, im Sudan, auf dem Balkan, in der Ukraine: Frauen mit gerahmten Fotos in der Hand. Diese Mütter, Ehefrauen oder Schwestern stehen vor unseren Büros und warten auf ihre Söhne, Ehemänner oder Brüder. Hoffen auf Nachrichten. Der Mut und die Tapferkeit dieser Familien bewegen und beeindrucken mich am meisten.
Im Ukraine-Krieg suchen Sie auch nach russischen Vermissten?
Selbstverständlich. Wir folgen dem Grundsatz der Unparteilichkeit. Wir ermitteln unabhängig von Religion, kulturellem Hintergrund und politischer Situation. Eine vermisste Person ist eine vermisste Person. Und das Leid der Familien ist hinter allen Fronten gleich. Sie wollen alle wissen, was mit ihren geliebten Menschen passiert ist. Die Ungewissheit ist ein Schmerz, der nicht nachlässt. Die Psychologie kennt das als „Syndrom der unklaren Verlustsituation“, weil man ständig zwischen Hoffnung und Verzweiflung hin- und hergerissen ist. Man findet nie einen Abschluss.
Sie bringen auch die Toten nach Hause?
In unserer Suchstelle haben wir eine forensische Einheit, das ist im humanitären Sektor einzigartig. Wir setzen uns sehr für den respektvollen Umgang mit den Toten ein. Jeder war ein Mensch mit Identität, Geschichte, Hoffnung – und einer Familie. Jede Person, die nicht identifiziert wird, bleibt für die Angehörigen immer vermisst. Sie müssen wissen, was geschehen ist.
Rettung in vielen Notlagen
Das Logo des Roten Kreuzes hat nichts mit Religion zu tun, es spiegelt die Flagge seines Gründungslandes Schweiz. Arabische Staaten entschieden sich für den Halbmond. Neutralität ist das oberste Gebot der Organisation, die viele Aufgaben übernimmt – vom Blutspendedienst bis zur Suche nach Vermissten in Kriegen. Im Alltag sehen wir v. a. die Arbeit der nationalen Gesellschaften, die sich in mehr als 190 Ländern um Katastrophenschutz, soziale Dienste (z. B. Pflege- und Sanitätsdienste), Gesundheits- und Bildungsprojekte kümmern. Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften (IFRC) koordiniert Hilfe bei Naturkatastrophen und Gesundheitskrisen.
Die Central Tracing Agency (CTA) gehört zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit Sitz in Genf und ist bereits seit 1863 vor allem in bewaffneten Konflikten aktiv. Wegen sinkender Spenden und steigender Ausgaben geriet das IKRK 2023 in eine finanzielle Krise. Seitdem ist Geld knapp, gleichzeitig wachsen die Aufgaben: Vor allem die vielen Kriege setzen den Helferinnen und Helfern zu. Hier kann man für das IKRK spenden: icrc.org/de/spende.