Active Beauty
Vea Kaiser über ihre Beziehung zum eigenen Ich
Text: Vea Kaiser

Ohne "Ich" kein "Wir"

Vea Kaiser über ihre Beziehung zum eigenen Ich

Wie funktioniert Zweisamkeit in besonderen Zeiten wie Corona? Bestseller-Autorin Vea Kaiser hat über ihre Beziehung zum Ich nachgedacht – und was das für ihre Paar-Beziehung bedeutet.

Mein Mann und ich hatten am Vortag bereits Gerüchte gehört und verfolgten die Pressekonferenz zu den Krisenmaßnahmen von meinem Smartphone aus. „Alles wird gut“, sagte ich zwangsoptimistisch und überschlug im Kopf, dass sich für meinen Mann ohnehin wenig ändern würde: Er würde weiterhin im Krankenhaus arbeiten und als Urologe wohl auch nicht mit Covid-Patienten in Kontakt kommen.

Bei mir hingegen würden alle geplanten Termine, Lesungen, Vorträge und Reden abgesagt werden. Und so kam es dann auch: Ich war von dem Tag an dazu verdonnert, zu Hause zu bleiben. Doch ich beschloss, das Beste aus dieser Situation zu machen.

Vea Kaiser: Von der Wir-Beziehung zum Ich

Corona-Phase 1: Von (unschaffbaren) To Do-Listen

Gleich am nächsten Tag schrieb ich mir eine Liste, wie ich die kommenden Wochen möglichst produktiv nutzen könnte. Am Ende umfasste meine Vorhabensliste drei eng beschriebene Seiten, die To-Do-Punkte reichten von dringend notwendigen Erledigungen wie der Steuererklärung bis zu seit Jahren Aufgeschobenem wie Kellerabteil-Aufräumen und Küchenschränke-Inventur.

Sie umfasste Dinge, die ich ohnehin jeden Tag tue, also an meinem neuen Buch schreiben, Klavier spielen und kochen, ebenso wie absolut überambitionierte Fleißaufgaben: die Fliesen-Fugen mit einer Zahnbürste reinigen, jeden Tag mit einer halben Stunde Yoga beginnen, Brot selbst backen, mindestens sechsmal die Woche Sport treiben und jeden Abend zum Dinner mit dem Gatten gestylt erscheinen.

Ich hatte vergessen, dass ein Faktum durch keinen Ausnahmezustand verändert werden kann: dass ein Tag nur 24 Stunden hat. Stattdessen versuchte ich krampfhaft, mein Programm durchzuziehen. Wie eine Getriebene hetzte ich von der Yogamatte zum Computer und sah Fensterputzen als „auflockernde Tätigkeit dazwischen“.

Ich wurde abends früher müde, kam trotzdem morgens schwerer aus dem Bett und wurde bald sehr wütend, weil ich den Ambitionen meiner Todo-Liste nicht gerecht wurde. Warum hatte ich nicht mehr Energie? Warum war ich bei der Arbeit nicht konzentrierter? Warum schaffte ich nicht mehr Kilometer beim Laufen? Warum konnte ich diese Krise nicht effizienter nutzen?

Corona-Phase 2: Die Explosion

Nach etwa einem Monat eskalierte die Situation. Nachdem ich den ganzen Tag lang E-Mails beantwortet, der Oma stundenlang erklärt hatte, warum sie nicht einkaufen fahren durfte, und dazwischen die Böden geschrubbt und eingelassen hatte, kam mein Mann aus dem Krankenhaus nach Hause. Wie ferngesteuert schritt er zur Couch, in die er sich hineinfallen ließ – ohne zuvor seine Schuhe auszuziehen.

Diesen Moment sehe ich noch immer vor mir, und wie ich keine Sekunde lang daran denken konnte, dass er einen harten und für die Gesellschaft wichtigen Dienst hinter sich hatte und nun zu müde zum Stehen war. Alles, was ich sah, waren die staubigen, stinkenden Turnschuhe an seinen Füßen, deren Sohlen schwarz vom Straßendreck waren und mit denen er dennoch quer über den von mir nicht nur eigenhändig auf den Knien aufgewaschenen, sondern sogar mit Holzöl eingelassenen Parkettboden geschritten war.

Ich explodierte und schrie meinen Mann fast zehn Minuten lang an, dass ich nicht seine Putzfrau sei, dass auch ich Arbeit habe, dass das alles so nicht mehr weitergehen könne und, und, und. Schließlich stammelte er: „Aber wir hatten doch ausgemacht, dass wir den Boden morgen zusammen aufwischen!“ Er hatte recht. Und das erboste mich so sehr, dass ich mich im Schlafzimmer einsperrte.

Früher hätte ich in Momenten wie jetzt, wenn die Unzufriedenheit schreiend wird, eine Freundin angerufen und gefragt, ob wir auf einen Spritzer gehen wollen, mich mit einem guten Buch ins Kaffeehaus gesetzt, wäre zu irgendeinem Sportkurs getigert, hätte meine Großeltern besucht oder sonst einen Grund gefunden, um rauszugehen und mich abzulenken.

Doch all das war nicht möglich. Ich war zu Hause eingesperrt, und nachdem ich eine gute Stunde auf die Straße gestarrt hatte, merkte ich, dass nicht das Eingesperrt-Sein das Problem war, sondern der Mensch, mit dem ich eingesperrt war, und der die dafür wahrscheinlich anstrengendste Gesellschaft war, weil mir dieser Mensch die Luft zum Atmen raubte: und zwar ich selbst.

Corona-Phase 3: Die Einsicht

Meist sind wir selbst diejenigen Menschen, die uns das Leben am schwersten machen und die uns selbst dafür dann auch noch hassen. Und plötzlich verstand ich, dass es vielleicht sogar gut war, nicht fliehen zu können. Denn ich hatte vor einem Menschen davonlaufen wollen, dem ich ohnehin nie entkommen werde: mir selbst.

Mir und meinen illusorischen Ansprüchen an mich selbst, meiner eigenen Unzufriedenheit mit meinen Unzulänglichkeiten. Eines der schwersten, aber wohl auch wichtigsten Dinge, die die Wochen des Zuhausebleibens uns allen abverlangt haben, war, mit uns selbst zurechtzukommen.

Corona-Phase 4: Das Learning – vom „Wir“ zum „Ich“

Was mich diese Wochen lehrten, ist, wie oft ich der Auseinandersetzung mit mir bisher aus dem Weg gegangen war. In der Beziehung mit dem eigenen Ich stehen wir alle vor unterschiedlichen Herausforderungen. Die einen müssen darauf achten, vom eigenen Ich nicht zu wenig zu verlangen und dadurch die eigenen Wünsche und Träume nicht zu sehr unter den Sessel fallen zu lassen. Die anderen, zu denen ich mich zähle, müssen aufpassen, sich nicht zu viel abzuverlangen. Sich zu erlauben, Mensch zu bleiben.

Uns allen ist gemeinsam, dass wir Bedürfnisse haben, die wir achten müssen. Wir brauchen unsere Ruhe, aber ebenso unsere Abwechslung. Wir brauchen Rückzug und Gesellschaft, wir dürfen uns fordern, aber uns ebenso erlauben, nicht perfekt zu sein.

Und wir sollten auch niemals vergessen, dass es zwischen Schwarz und Weiß unendlich viele Farben im Malkasten gibt. Und dass die Beziehung mit dem eigenen Ich von unendlich vielen Nuancen geprägt ist.

Ab Mitte der Ausgangsbeschränkungen beschloss ich jedenfalls, fortan nicht mehr so streng mit mir selbst zu sein. Mich nicht unnötig unter Druck zu setzen und stattdessen einzusehen, dass es völlig in Ordnung ist, nicht binnen acht Wochen alles zu erledigen, was man acht Jahre lang nicht geschafft hat.

Corona-Phase 5: Über Selbstliebe zu Nächstenliebe

Das tat nicht nur mir gut, sondern auch meiner Ehe und dementsprechend meinem Mann. Die altbekannte Weisheit stimmt ja doch: Man kann andere nur lieben, wenn man auch sich selbst lieb hat. Worin diese Selbstliebe besteht, mag für jeden von uns anders aussehen. Wir alle haben verschiedene Bedürfnisse, für deren Erfüllung wir selbst verantwortlich sind. Und oft ist es leichter, auf die Bedürfnisse anderer zu schauen und sich dabei selbst hintanzustellen.

Aber am Ende des Tages können wir niemandem Gutes tun, wenn wir selbst keine Energie mehr haben. Wir können Nähe zu anderen Menschen nicht aushalten, wenn wir uns zuvor selbst um die Luft zum Atmen gebracht haben.

Eine jede Zweisamkeit funktioniert nur dann, wenn es sich auch in Einsamkeit gut lebt. Nur wenn das eigene Ich nicht auf der Strecke bleibt, kann das Wir funktionieren. Das ist nicht Egoismus, sondern Selbstfürsorge. Jede Beziehung zu anderen Menschen ist wie ein Haus, das wächst und mit der Zeit immer prachtvoller ausgestattet wird. Doch das Fundament, auf dem es steht, ist eine gesunde Beziehung zum eigenen Ich. Und nur wenn diese stabil und solide ist, kann daraus und darauf Schönes wachsen.