Interview mit Psychiaterin Dr. Christa Rados über Depressionen
„Wir brauchen individuelle Behandlungsmethoden für Depressionen“: Dr. Christa Rados setzt sich erfolgreich für einen offenen Umgang mit Mental-Health-Themen ein. Hier erklärt die bekannte Psychiaterin, warum Männer anders leiden als Frauen – und wie wir uns im Alltag umeinander kümmern können.
Inhaltsverzeichnis
- Psychiaterin aus Passion
- Frau Dr. Rados, psychische Erkrankungen wie Depression scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Schätzungen zufolge erleben in Europa rund 50 Millionen Menschen – also etwa elf Prozent der Bevölkerung – mindestens einmal im Leben eine depressive Episode. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
- Das heißt, Frauen suchen sich früher Hilfe von außen?
- Wie geht es der jüngeren Generation damit?
- Gerade bei den Jungen wird Einsamkeit aktuell als besonders gravierendes Problem empfunden. Wie wirkt sich das auf die Psyche aus?
- Seien es Freundin, Partner oder mein Kind: Wenn ich einen realen Menschen in meinem Umfeld habe, der sich plötzlich verändert, zurückzieht, dem es offensichtlich nicht gut geht – wie kann ich helfen?
- Wenn wir von Mental Health sprechen – was wünschen Sie sich für die Zukunft?
- Was hat Sie denn ursprünglich zur Medizin und speziell zur Psychiatrie geführt?
- Im Laufe dieser Jahre hatten Sie so hohe Positionen wie Präsidentin, Abteilungsvorständin und fachliche Leiterin inne. Wie sind Sie Ihren Weg gegangen, gerade als Frau in einem männerdominierten Umfeld?
- Wie nähren Sie privat Ihren Geist?
- Psychische Krisen? Hier gibt es kostenlos Erste Hilfe:
Viele Menschen leiden unter psychischen Belastungen und Krankheiten wie Depression, doch fehlt es oft an passenden Angeboten, Verständnis und Mut zum offenen Gespräch. Dr. Christa Rados ist seit 40 Jahren Psychiaterin und kämpft für einen entstigmatisierten Umgang mit dem Thema Mental Health. Im Interview spricht sie über geschlechtsspezifische Unterschiede, Alarmzeichen und darüber, warum sie mit 70 noch lange nicht ans Aufhören denkt.
Psychiaterin aus Passion
Dr. Christa Rados, geboren 1955 in Wien, zählt zu den prägenden Stimmen der Psychiatrie. Nach ihrem Medizinstudium und Facharztausbildungen, u. a. in Neurologie und Psychiatrie, übernahm sie 2010 die Leitung der neu geschaffenen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am LKH Villach, die sie über ein Jahrzehnt hinweg fachlich und strukturell mitgestaltete. Darüber hinaus engagierte sie sich in Lehre und Berufspolitik, unter anderem in einer leitenden Funktion in einer nationalen Ethikkommission. Von 2016 bis 2019 stand sie an der Spitze der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, der sie bis heute als Past President verbunden ist. Für ihr langjähriges Wirken wurde sie 2023 mit dem Großen Ehrenzeichen des Landes Kärnten ausgezeichnet. Auch mit 70 Jahren ist sie weiterhin aktiv, u. a. als Speakerin sowie als fachliche Leiterin der Psychiatrischen Therapiezentren Kärnten, die sie mit aufgebaut hat.
Frau Dr. Rados, psychische Erkrankungen wie Depression scheinen auf dem Vormarsch zu sein. Schätzungen zufolge erleben in Europa rund 50 Millionen Menschen – also etwa elf Prozent der Bevölkerung – mindestens einmal im Leben eine depressive Episode. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Es ist schwer, eindeutig zu sagen, ob psychische Erkrankungen tatsächlich stark zunehmen oder ob sich heute einfach mehr Menschen trauen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die gesellschaftliche Offenheit im Umgang mit psychischen Problemen ist gewachsen, und das senkt die Hemmschwelle, über eigene Belastungen zu sprechen oder sich behandeln zu lassen. Unter anderem durch die mediale Berichterstattung wissen wir besser, wie sich eine Depression äußert, und können uns gezielt Hilfe suchen. Denn die Symptome dafür sind nicht immer sozialer Rückzug, Antriebslosigkeit, traurige Stimmung oder ein Gefühl von Leere. Da gibt es tatsächlich auch geschlechtsspezifische Unterschiede, die wissenschaftlich belegt sind.
Hier lesen Sie mehr über Gendermedizin, und warum Frauen eine andere Medizin brauchen.
Welche wären das?
Frauen erkranken laut Statistik häufiger, aber Männer fallen oft durchs Raster. Denn Depression, eine der häufigsten psychischen Erkrankungen, tritt in verschiedenen Unterformen auf: Da gibt es die mit erkennbaren Auslösern, etwa ein Burn-out, aber auch solche, die scheinbar aus dem Nichts kommen. Dann kennen wir spezifische Varianten wie die postpartale Depression, die im ersten Jahr nach der Geburt auftreten kann – von der natürlich Frauen betroffen sind. Depressionen zeigen sich bei Männern oft anders: weniger Traurigkeit, mehr Reizbarkeit, Rückzug in die Arbeit oder den Sport, exzessives Verhalten – oft begleitet von Alkoholmissbrauch, was wiederum die eigentliche Problematik verschleiert.
Das heißt, Frauen suchen sich früher Hilfe von außen?
Ja, denn Frauen merken es eher, wann es Zeit ist, sich Unterstützung zu holen. Sie sprechen leichter über Probleme, weil sie das von klein auf besser lernen als Buben. Männer sprechen seltener über psychisches Leid, was problematisch ist, denn viele Angebote sind stark auf Gesprächstherapie ausgerichtet. Frauen sind oft auch die Gesundheitsmanagerinnen der Familie, haben zum Beispiel zusätzlich zum eigentlichen Beruf noch Pflege- oder andere Aufgaben. Der Schritt in die Therapie wird oft durch Scham oder gesellschaftliche Rollenerwartungen erschwert, vor allem bei Männern. Deren Suizidrate ist dreimal so hoch wie die von Frauen – das sollte uns zu denken geben. Deshalb müssen wir unsere Angebote besser auf alle Geschlechter und Lebensumstände zuschneiden. Hat man den ganzen Tag gearbeitet und will abends einfach nur Netflix am Sofa schauen, ist es nicht leicht, sich noch mal aufzuraffen und irgendwo hinzugehen, um zu reden. Diese Energie bringe ich nicht auf, schon gar nicht mit einer Depression. Deshalb brauchen wir individuelle Behandlungsmethoden wie etwa Online-Sitzungen, die man von zu Hause aus machen kann.
Wie geht es der jüngeren Generation damit?
Ich beobachte immer wieder, dass junge Menschen heute deutlich offener mit dem Thema Mental Health umgehen, und zwar alle Geschlechter. Man lässt sich nicht so sehr von klassischen Mustern einschränken. Außerdem werden Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten immer öfter präventiv konsultiert, etwa für Partnerschaftsberatung, Familientherapie oder um herauszufinden, wie man sein persönliches Potenzial ausschöpfen kann.
Gerade bei den Jungen wird Einsamkeit aktuell als besonders gravierendes Problem empfunden. Wie wirkt sich das auf die Psyche aus?
Einsamkeit ist ein ernst zu nehmender Risikofaktor für psychische Erkrankungen, sogar vergleichbar mit schlechter Ernährung oder Bewegungsmangel. Die meisten Menschen sind soziale Wesen und brauchen zwischenmenschliche Nähe. Und obwohl es heute mehr Events und Orte der Begegnung gibt, fühlen sich viele isoliert – zum Beispiel Ältere, die aus gesundheitlichen Gründen nicht mobil sind, oder Menschen mit wenig finanziellen Mitteln, die sich Events oder Verabredungen zum Essen nicht leisten können. Die klassische Großfamilie gibt es kaum noch, Stammtische oder ähnliche Treffen verschwinden, Kinder verbringen viel Zeit allein beim Gaming und Individualisierung wird gesellschaftlich gefördert. Das ist alles per se nicht negativ, kann aber zur Vereinsamung führen. Dieses Gefühl ist vielschichtig und braucht unterschiedliche Lösungen. Künstliche Intelligenz wird echte menschliche Beziehungen zwar nie ersetzen können, virtuelle Formate wie Online-Treffen mit realen Personen können jedoch eine sinnvolle Ergänzung sein, wenn echte Kontakte fehlen.
Seien es Freundin, Partner oder mein Kind: Wenn ich einen realen Menschen in meinem Umfeld habe, der sich plötzlich verändert, zurückzieht, dem es offensichtlich nicht gut geht – wie kann ich helfen?
Indem Sie Unterstützung anbieten. Es offen und achtsam ansprechen. Wählen Sie einen passenden Moment, nicht mitten in einer akuten Stresssituation. Beschreiben Sie, was Ihnen aufgefallen ist, ohne zu bewerten, und sagen Sie ehrlich, dass Sie sich Sorgen machen. Die Botschaft sollte sein: „Ich bin da und ich möchte helfen.“ Es kann gut sein, dass die betroffene Person abblockt oder alles abstreitet. Bleiben Sie trotzdem dran, ohne zu drängen. Manchmal dauert es, bis jemand Hilfe annehmen kann. Wenn die Situation jedoch ernst ist – etwa bei suizidalen Gedanken oder massivem Suchtverhalten –, sollten Sie nicht zögern, sich selbst Hilfe zu holen, etwa bei einem Krisendienst oder einer professionellen Beratungsstelle.
Wenn wir von Mental Health sprechen – was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Psychiatrie läuft schon gut, vor allem dort, wo alle Fachleute vor Ort sind, etwa im Krankenhaus. Aber im Alltag ist es oft schwierig, passende Angebote aus verschiedenen Bereichen zu koordinieren. Das muss flächendeckend besser werden. Ein großes Problem ist der Fachärztemangel, der in der Psychiatrie stark spürbar ist. Wir brauchen mehr Anreize und bessere Ausbildungsbedingungen, damit junge Ärztinnen und Ärzte diesen Weg einschlagen. Vor allem im ländlichen Raum, wo es oft noch weniger Angebote gibt als in der Stadt. Trotzdem sehe ich eine vielversprechende Zukunft für die Psychiatrie: Die Forschung bringt ständig neue Erkenntnisse. Wichtig ist, dass wir gut vernetzt bleiben und zusammenarbeiten.
Was hat Sie denn ursprünglich zur Medizin und speziell zur Psychiatrie geführt?
Ich komme aus einer Ärztefamilie und wollte eigentlich nie in die Medizin. Kunst, Kultur und Kreativität, das war meine Welt. Nach einer Phase des Suchens und Reisens wollte ich dann doch etwas mit Menschen, Gesundheit und gesellschaftlichem Nutzen machen. Viele Organisationen konnten mit reinem Idealismus aber nichts anfangen und verlangten Qualifikationen – so kam ich doch zur Medizin. Meine Eltern freuten sich, waren aber auch besorgt. Denn ich bin mitten in der Babyboomer-Generation groß geworden, zur Zeit der sogenannten Ärzteschwemme. Das heißt, es gab – im Gegensatz zu heute – mehr ausgebildete Medizinerinnen und Mediziner, als tatsächlich gebraucht wurden. Man hat uns damals sogar gewarnt, dass wir keinen Job bekommen würden. Aber im Endeffekt fanden wir alle unseren Platz im System. Mich zog die Sozialmedizin an, ich wollte die Lebensbedingungen von Menschen verbessern. Die Psychiatrie ergab sich im Lauf der Ausbildung. Seitdem, also seit rund 40 Jahren, bin ich mit Leib und Seele Psychiaterin.
Im Laufe dieser Jahre hatten Sie so hohe Positionen wie Präsidentin, Abteilungsvorständin und fachliche Leiterin inne. Wie sind Sie Ihren Weg gegangen, gerade als Frau in einem männerdominierten Umfeld?
Heute wird die Medizin zunehmend weiblich, aber in meiner Anfangszeit waren Führungspositionen fast ausschließlich männlich besetzt. Ich war in Kärnten die erste Primaria einer bettenführenden psychiatrischen Abteilung – das war ein Novum. Eine meiner größten Herausforderungen war sicher die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Ich habe mit knapp 40 meine Tochter bekommen – genau in der Zeit, in der meine Karriere Fahrt aufnahm. Als Frau musst du oft mehr leisten, darfst kaum Nein sagen, wenn du Chancen nutzen willst. Ich hatte zum Glück Unterstützung von meinem Mann, aber als Familie mussten wir alle Kompromisse machen. Trotz allem: Ich war gerne Mutter, Ärztin, Führungskraft und mir machten diese Kompromisse nichts aus. Aus dieser Begeisterung kam viel Kraft. Natürlich war das anstrengend, aber durch meine Leidenschaft für diesen Beruf hat mich dennoch eine innere Gelassenheit begleitet. Und auch heute mit meinen 70 Jahren denke ich noch nicht an Ruhestand. Auch wenn ich bereits stolze Oma bin.
Wie nähren Sie privat Ihren Geist?
Ich bin seit meiner Kindheit eine Leseratte! Dafür nehme ich mir bewusst Zeit. Sobald ich weniger Verpflichtungen habe, steht eine Weltreise ganz oben auf der Wunschliste. Außerdem gehören Kunst, Kultur und möglichst viel Bewegung in der Natur fest zu meinem Leben. Und sonst: Lachen, eine positive Lebenseinstellung und natürlich der Kampf für die Anerkennung meines Berufs. Als ich begann, war Psychiatrie lediglich ein ergänzendes Nebenfach und es wurde oft gesagt: „Dafür muss man wirklich Medizin studieren? Warum?“ Heute hat sich das natürlich geändert, aber im Ansehen in der Öffentlichkeit hat die Psychiatrie immer noch nicht den Stellenwert anderer medizinischer Fächer. Da muss noch viel passieren und daran will ich mitarbeiten. Vor Kurzem, also eigentlich am Ende meiner Karriere, wurde mir angeboten, eine neue ambulante Einrichtung aufzubauen: das Psychiatrische Therapiezentrum Kärnten mit zwei Standorten in Villach und in Klagenfurt. Eine ganz andere Perspektive, raus aus dem Krankenhaus, näher an den Lebensrealitäten der Menschen – das macht mir große Freude.
Psychische Krisen? Hier gibt es kostenlos Erste Hilfe:
- Telefonseelsorge: anonym, österreichweit. Tel. 142 – täglich, rund um die Uhr. Onlineberatung möglich unter: telefonseelsorge.at.
- Rat auf Draht: Notrufnummer für Kinder, Jugendliche und deren Angehörige. Tel. 147 – täglich, rund um die Uhr. Infos: rataufdraht.at.
- Psychosoziale Notdienste gibt es für jedes Bundesland. Zum Beispiel die Sorgenhotline Wien: Tel. 01 4000 53000 – täglich, von 8 bis 20 Uhr. Infos: psd-wien.at.
- Befrienders Worldwide: Internationale Plattform mit Hilfe-Hotlines in über 30 Ländern. Infos: befrienders.org.